Die Augen, Hinter dem Fenster, Energiesparmodus

In unseren Geschichten haben wir uns von der aktuellen gesellschaftlichen Lage und der damit einhergehenden Distanzierung der Menschen untereinander, sowie der primär durch das Internet aber auch den Schulalltag gegebenen Realitätsflucht inspirieren lassen. Vor allem im Oberstufenalter scheint man oft zu vergessen, was wirklich im Leben zählt, sodass man sich selbst und seine Bedürfnisse vernachlässigt. Es folgen nun also drei verschiedene Kurzgeschichten, von denen wir hoffen, dass der ein oder andere die Situation nachempfinden oder sich sogar mit ihnen identifizieren kann. Schreibt uns auch gerne bei Nachfragen und nutzt unsere Geschichten als Übungen für euren nächsten Kurzgeschichteninterpretationsaufsatz. 😉 (Wow, langes Wort)

Nina, Winona und Liv aus der S3

Die Augen

Sie wachte auf. Draußen war es dunkel. Niemand war zu Hause, sie war alleine und das Haus war ihr einziger Schutz vor der einsamen Wirklichkeit. Doch an diesem Tag konnte sie sich nicht vor der Wirklichkeit verstecken, sie musste das Haus verlassen. Sobald sie einen Fuß vor die Haustür setzte, berührten die Regentropfen sanft ihr Gesicht und ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln. Erdrückend langsam schlichen die Menschen die dunkle Straße entlang. Widerstrebend wurde sie ein Teil der einheitlichen Menschenmasse. Die hoffnungslos scheinende Sonne versuchte die Menschen langsam zu erreichen, doch das änderte nichts an der bestehenden Finsternis. Die Straße verschluckte die Menschen regelrecht, sie tarnten sich wie Tiere im Wald. Durch ihre gekrümmte Körperhaltung schien es so, als ob sie nach etwas suchen würden. Doch die Menschen klammerten sich lediglich mit ihren leblosen Händen zwanghaft an ihre Handys. Wie lange war es her, dass ihr jemand in die Augen geschaut hatte? Sie bewegte ihre Beine immer schneller und ihr Atem beschleunigte sich. Um nicht aufzufallen ließ sie ihren Kopf schlaff nach unten hängen. Noch um die nächste Ecke, dann bin ich endlich da, dachte sie sich. Doch dann wurde sie von einem anderen Körper gestoppt und es war so, als ob die gesamte Luft aus ihrer Lunge gepresst wurde. Sie konnte sich fast nicht mehr auf den Füßen halten, als sie schmale Finger an ihrem Arm spürte, die sie vor dem kalten Boden bewahrten. Mit aufgerissenen Augen schaute sie diesem jemand direkt ins Gesicht und ihr Atem stockte. Seine leuchtend blauen Augen schauten sie direkt an und es war so, als könne er ihre Gedanken sehen. Sie regte sich nicht, so gebannt war sie von seinem intensiven Blick. In seinen Augen spiegelte sich eine andere Welt wieder, voller Ruhe, Harmonie und Zufriedenheit. Sie löste ihren Blick von seinen Augen und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er flüsterte ihr leise zu „Was suchst du denn auf dem Boden, du verpasst dein Leben.” Er zeigte Richtung Himmel. Ihre Augen folgten ihm. Dort schaute ein Regenbogen besonnen auf sie herab und die Wirklichkeit erschien auf einmal nicht mehr so dunkel wie sonst.

Nina Bietke

Hinter dem Fenster (2021)

Sie legte den Kulli nieder, an den sie sich in der vergangenen Stunde geklammert hatte und betrachtete ihren Aufsatz. Zufrieden sein fühlte sich anders an. Schon schlug sie das Biologiebuch auf. Sie könnte noch etwas Wichtiges übersehen haben, das für die morgige Klausur relevant sein könnte. Während ihre Augen durch die endlosen Zeilen wanderten, machte sich ein unangenehmes Ziehen in ihrem Magen bemerkbar, das sie gekonnt ignorierte. Ein Blick auf die Uhr ließ sie  aufstöhnen, das mit dem Schlaf konnte sie vergessen. Ihr krummer Rücken knackte dankbar, als sie sich streckte. Sie schob das Buch weg, den Aufsatz wieder zu sich. “Mein beruflicher Werdegang – Wo stehe ich in 10 Jahren”. Ihre Antwort war solide und vernünftig, weshalb sie sich eine gute Note erhoffte. Warum schaute sie das verstaubte Klavier am Ende ihres Zimmers dann so enttäuscht an? Sie konnte seinen Blicken kaum standhalten. Wehmütig betrachtete sie den verschlossenen Deckel. Ein Knoten, der sich in ihren ganzen Körper von ihrem Hals startend fortpflanzte, ließ sie bewegungslos auf ihrem kleinen Stuhl sitzen, unfähig diesen herunter zu schlucken, unfähig zu atmen.

Quietschend löste sich das Scharnier ihres Dachfensters, sodass die Flügel geräuschvoll an die anliegenden Wände knallten. Ein kühler Wind durchströmte das kleine Zimmer und kitzelte an ihrer Nase, darauf wartend eingelassen zu werden. Als sie ihn gewähren ließ, floss das pure Leben in ihre Lunge, sodass sie für einen Moment lang durchatmen konnte. Verwirrt und neugierig zugleich stand sie auf und kletterte auf den holzgetäfelten Dachsims. Hinter dem Fenster war der Himmel wolkenlos und ließ ihren Blick weit werden. Nur der Fensterrahmen beschränkte die ansonsten grenzenlos scheinende Aussicht, sodass sie sich noch weiter aus dem Fenster heraus lehnte. Die nächtliche Landschaft des ländlich gelegenen Vororts, in dem ihr Haus lag, wurde von sanftem Grillenzirpen unterlegt und aus der Ferne drang das brummendes Rauschen des die Autobahnbrücke überquerenden Verkehrs. Sie streckte ihre Hand aus, denn die Sterne waren zum Greifen nah. Besonders einer leuchtete ihr verheißungsvoll entgegen. Er rief nach ihr und umfasste ihr Handgelenk mit einem leichten Ziehen.

Es klopfte. Sie stockte. Dann drehte sie sich um.

“Schatz das Essen ist fertig”, ertönte es dumpf von hinter der Tür.

Reflexartig knallte sie das Fenster zu und machte sich auf den Weg nach unten. Noch im selben Moment, in dem die Tür in ihre Angeln fiel, öffnete sie das Dachfenster einen zögerlichen Spalt breit, sodass das Licht des aufgegangenen Mondes das kleine Zimmer hell erleuchtete.

Liv Arnold

Energiesparmodus

Es war nicht leicht mir einen Weg durch die Schülermengen zu bahnen. Stur starrten sie geradeaus, auf den Schulfur hinter mir zusteuernd, ganz automatisch. Alle drei Sekunden mich anrempelnd, ganz egal. Sie merkten dies nicht. Für sie ging es weiter. So war es schließlich immer. Zu viele Kommentare, zu wenig Likes und machte man dann mal einen Fehler, dann wurde man ganz einfach gelöscht.

Ich erreichte schließlich mein Ziel. Eine kleine, abgelegene Abstellkammer, die unser Hausmeister früher als Büro genutzt hatte. Grau und verstaubt war sie. Wie eigentlich alles. Nur der Bildschirm eines Laptops strahlte mich an. Gelblich und warm. Das war selten. Meine Tasche stellte ich auf den Boden ab. Ich schloss die Tür. Das Summen von draußen verstummte. Erschöpft sackte ich auf den kleinen Hocker, der einmal laut knarzte, dann dreimal knackte und sich dann beruhigte. So war es schließlich immer. Meine Finger fanden die Maus, sprangen über die Tastatur und gähnend erwachte der Computer. Langsam kam sein Kreislauf in Schwung und er zeigte mir unser Gespräch. Lange kannte ich ihn noch nicht. Ich wusste, dass er auf meine Schule ging, in seiner Freizeit gerne Filme schaute, der Welt entfloh.

  • Hallo, sagte ich.

Und Worte wurden Zeichen. Ich wartete. Geduldig. Doch heute keine Antwort. Einmal Hochscrollen und der Computer ließ die Gespräche in Revue passieren.

  • Beschreibe dich in drei Worten, hatte er gesagt.
  • Schüchtern, mutig und hoffnungsvoll.
  • Wie passt das zusammen?
  • Ich bin schüchtern unter Menschen und mutig genau hier.
  • Okay.

Mehr hatte er nicht gebraucht, um mich zu verstehen.

  • Wer bist du? In drei Worten.
  • Groß, chaotisch und nervös.

Etwas später dann:

  • Wir sollten weg von hier. Mir geht die Energie aus.
  • Wohin? Es ist doch anderswo nicht anders.
  • Wir sollten weg von hier, hatte er nur geantwortet.

Das war die letzte Nachricht. Von gestern.
Und während ich das Datum, jede einzelne Zahl genau betrachtete, begannen die Farben des Bildschirms zu zittern. „Akkustand niedrig“, teilte mir der Computer mit. Den Arm unter den Tisch streckend, tastete ich nach dem Kabel. Doch da war nichts. Kein Kabel. Keine Speiseröhre. Kein Essen. Ich wollte gerade unter den Tisch krabbeln und nochmal nachschauen, besser, gründlicher, als es plötzlich dreimal klopfte. Sehr regelmäßig. Tock, Tock, Tock. Ich horchte auf.
Die Tür öffnete sich. Stille.
Ich blickte den Jungen an, der nun vor mir stand. 1,85m. Dunkle, in alle Richtungen abstehende Haare. Mit dem Fuß auf und ab wippend. Groß, chaotisch, nervös.
„Du solltest nicht hier sein“, sagte er langsam.
Dann drehte er sich um, schloss die Tür und verschwand.
So war es schließlich immer…

Winona Witten